Der Mistelzweig – zwischen Mythos, Volksglauben und moderner Realität
Kaum ein Weihnachtsbrauch wird so romantisiert – und gleichzeitig so missverstanden – wie der Mistelzweig. Zeit, die Geschichte dahinter einmal sauber und ohne Mythenfilter zu betrachten. Denn was heute als harmlos-romantische Tradition gilt, hat eine überraschend bewegte Kulturgeschichte – und viele der Erklärungen, die im Internet kursieren, halten einer genaueren Betrachtung nicht stand.
Mythologie, Missverständnisse und wie der Mistelzweig in die Geschichten rutschte
Wenn man nach den Ursprüngen des Mistelbrauchs sucht, stößt man schnell auf eine Vielzahl an Erklärungen, die gut klingen, aber historisch nicht standhalten. Besonders oft wird die nordische Baldur-Sage herangezogen, um den heutigen Kussbrauch zu erklären. Tatsächlich taucht die Mistel in dieser Mythologie auf – jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang.
Im ursprünglichen Mythos bittet Frigg, die Göttin der Liebe und Mutter Baldurs1, alle Dinge der Welt darum, ihrem Sohn keinen Schaden zuzufügen. Nur die Mistel2 lässt sie aus, weil sie sie für zu unscheinbar hält. Loki nutzt diese Lücke und tötet Baldur mit einem Mistelzweig.
Genau dieser Kern – Frigg, Baldur, Loki und die Mistel als übersehene Pflanze – ist in der Edda überliefert.
Mehr jedoch nicht.
Alles, was darüber hinaus heute erzählt wird – etwa dass Friggs Tränen zu den weißen Mistelbeeren wurden oder dass sie jeden küsste, der unter der Mistel vorbeiging – stammt nicht aus der nordischen Mythologie. Diese romantisierten Elemente tauchen erst viele Jahrhunderte später in volkstümlichen Nacherzählungen auf, vor allem im England des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie wurden dort offenbar ergänzt, um eine emotional stimmige Erklärung für den damals aufkommenden Mistelkuss-Brauch zu liefern.
Diese Mischung aus alter Mythologie und späteren Ausschmückungen zeigt, wie leicht sich Traditionen im Laufe der Zeit verändern – und wie schnell moderne Erzählungen als „alte Wahrheit“ übernommen werden, obwohl sie mit den ursprünglichen Quellen kaum zu tun haben.
Dazu möchte ich noch die Behauptung, der Mistelbrauch gehe auf die Saturnalien3 zurück, ein römisches Dezemberfest zu Ehren des Gottes Saturn aufgreifen. Das klingt plausibel, weil die Saturnalien mitten in die Winterzeit fallen und es um Feier, Licht und Gemeinschaft geht. Historisch belegt ist dieser Zusammenhang jedoch nicht. Es gibt keine Quelle aus der Antike, die Misteln oder ein Kussritual mit diesem Fest in Verbindung bringt. Dieser Teil ist moderne Folklore, nicht Geschichte.
Mythos vs. Realität
Mythos: Der Kussbrauch stammt aus dem alten Rom.
Realität: Dafür existieren keinerlei historische Quellen.
Mythos: Friggs Tränen wurden zu Mistelbeeren, und sie küsste jeden, der darunter vorbeiging.
Realität: Diese Version ist eine spätere romantisierte Nacherzählung aus dem 18./19. Jahrhundert.
Mythos: Der Mistelzweig war schon immer ein Liebessymbol.
Realität: Die Mistel wurde bei den Kelten vor allem als heilige Schutz- und Heilpflanze verehrt.
Fakt: Der moderne Kussbrauch entstand im England des 18. Jahrhunderts.

Was historisch wirklich belegbar ist
Die ältesten gesicherten Hinweise zur besonderen Bedeutung der Mistel finden sich tatsächlich bei den Kelten. Die Mistel – insbesondere die seltene Eichenmistel – galt dort als heilige Pflanze. Sie wurde rituell geerntet und als Schutz- und Heilpflanze angesehen.
Man schrieb ihr Lebensenergie, Fruchtbarkeit und Schutz vor Krankheit zu. Diese Symbolik überdauerte die Jahrhunderte und führte dazu, dass die Mistel in späteren Volksbräuchen weiterhin als Glücks- und Schutzpflanze galt.
Im europäischen Mittelalter und der frühen Neuzeit hing man Mistelzweige zum Schutz vor Krankheit und Unglück auf. Die Idee, dass Menschen „unter dem Schutz“ der Mistel stehen, wenn sie darunter verweilen, entwickelte sich aus diesen Vorstellungen – und bildet die Grundlage dafür, dass daraus später auch ein rituelles Zeichen der Zuneigung wurde.

Der tatsächliche Ursprung des Kusses unter dem Mistelzweig
Der heute bekannte Kussbrauch stammt nicht aus der Antike, nicht aus der germanischen Religion und auch nicht aus einer alten heiligen Tradition – sondern aus England des 18. Jahrhunderts.
Dort etablierte sich die Mistel als Teil der weihnachtlichen Festkultur. Unter einem aufgehängten Mistelzweig durfte eine Person geküsst werden – symbolisch für Glück, Zuneigung und ein gutes neues Jahr.
Im viktorianischen Zeitalter wurde dieser Brauch besonders populär und fand von dort aus seinen Weg in andere Länder. Vieles, was wir heute als „alte Tradition“ ansehen, ist daher eher Ergebnis dieser englischen Gesellschaftsrituale als ein Relikt vergangener Mythen.

Wann hängt man einen Mistelzweig auf – und wie lange bleibt er?
Der Mistelzweig wird üblicherweise in der Adventszeit aufgehängt. Gängig sind:
- ab dem 1. Advent,
- ab dem 1. Dezember,
- oder spätestens zu Weihnachten.
Wie lange er hängen bleibt, unterscheidet sich regional:
- Bis 6. Januar (Heilige Drei Könige) – im deutschsprachigen Raum weit verbreitet.
- Bis 2. Februar (Mariä Lichtmess / Candlemas) – eine ältere britische Tradition, die den Mistelzweig als Schutzsymbol bis Lichtmess sieht.
- Praktisch: Misteln sind langlebig, viele lassen sie hängen, solange sie optisch ansprechend bleiben. (Mein letzter Mistelzweig hat knapp 4 Jahre überlebt 😅 bis ich ihn dann doch mal entsorgt habe)
In historischen englischen Quellen findet sich zudem der Hinweis, den Mistelzweig des Vorjahres zu verbrennen, bevor ein neuer aufgehängt wird. Dieser Aspekt gehört jedoch eher in den Bereich der alten Volksbräuche und wird heute kaum noch angewendet.

Warum Misteln nicht selbst geerntet werden dürfen
Bevor man einen Mistelzweig in die Wohnung hängt, lohnt sich außerdem ein Blick darauf, wie Misteln überhaupt geerntet werden dürfen – und warum das in Deutschland strengen Regeln unterliegt.
Misteln wirken harmlos, doch ihr Wachstum ist für den Baum nicht ohne Folgen. Die Pflanze lebt parasitär und entzieht ihrem Wirtsbaum Wasser und Nährstoffe. Wird sie unsachgemäß entfernt, kann das den Baum zusätzlich schwächen oder sogar langfristig schädigen.
Aus diesem Grund stehen Misteln in vielen Regionen unter besonderem Schutz, und das Schneiden an fremden Bäumen ist grundsätzlich verboten. Die im Handel angebotenen Misteln stammen daher aus genehmigten Pflegemaßnahmen oder aus kontrollierter Ernte auf Obstplantagen – nicht aus der freien Natur.

Ein moderner Hinweis zur Zustimmung
So romantisch der Kussbrauch wirkt, er sollte heute unbedingt mit einem zeitgemäßen Verständnis von Respekt und persönlichen Grenzen verbunden sein. Ein Kuss unter dem Mistelzweig ist keine Verpflichtung und kein Automatismus. Früher wurde das teilweise leichtfertig gehandhabt – etwas, das heute weder angemessen noch respektvoll wäre.
Wer jemanden küssen möchte, fragt vorher. Eine klare Zustimmung ist selbstverständlich. Und ein Nein wird akzeptiert.
Der Mistelzweig kann ein schönes Symbol für Verbundenheit sein – aber nur, wenn beide Personen diese Nähe auch wirklich möchten.

Mein Fazit
Der Mistelzweig ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie sich Pflanzen, Mythen und Bräuche über Jahrhunderte gegenseitig beeinflussen. Vieles, was heute als „alter Brauch“ erzählt wird, ist historisch nicht belegbar und entstand erst in der Neuzeit. Die Mistel selbst hat tatsächlich eine lange Tradition als heilige Pflanze, doch der romantische Kussbrauch ist deutlich jünger und lässt sich auf England des 18. Jahrhunderts zurückführen.
Am Ende zählt, wie wir solche Bräuche heute leben: bewusst, respektvoll und mit einem klaren Blick für ihre tatsächlichen Ursprünge.

Wie sieht es bei euch aus?
Hängt ihr zu Weihnachten einen Mistelzweig auf? Kennt ihr vielleicht eigene Familienbräuche oder regionale Traditionen?
Ich freue mich über eure Erfahrungen in den Kommentaren.

FAQ
Woher stammt der Brauch mit dem Mistelzweig wirklich?
Der Kussbrauch hat seinen Ursprung im England des 18. Jahrhunderts. Ältere keltische Traditionen beziehen sich auf die Mistel als heilige Schutz- und Heilpflanze.
Stimmt es, dass Frigg den Mistelzweig zur Liebespflanze gemacht hat?
Nein. Diese romantisierte Version stammt aus späteren Nacherzählungen und findet sich nicht in den ursprünglichen nordischen Quellen.
Hängt man den Mistelzweig ab Advent oder erst zu Weihnachten auf?
Gängig ist die Adventszeit: ab 1. Advent, ab 1. Dezember oder spätestens zu Weihnachten.
Wie lange bleibt der Mistelzweig hängen?
Entweder bis zum 6. Januar (Heilige Drei Könige) oder – nach britischer Tradition – bis Mariä Lichtmess am 2. Februar.
Darf man Misteln selbst schneiden oder ernten?
Nein. Misteln dürfen in Deutschland nicht einfach selbst geerntet werden. Das Schneiden an fremden Bäumen ist verboten, und Misteln stehen vielerorts unter besonderem Schutz. Da die Pflanze parasitär wächst und ihrem Wirtsbaum Nährstoffe entzieht, kann ein unsachgemäßes Entfernen den Baum schädigen. Die Misteln im Handel stammen aus genehmigten Pflegemaßnahmen, nicht aus der freien Natur.

- Wikipedia Eintrag zu Baldur bzw. Balder ↩︎
- Wikipedia Eintrag zu Misteln ↩︎
- Wikipedia Eintrag zu Saturnalien ↩︎
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