Wenn Rücksicht optional wird – Eishockeyabend zwischen Boykott, Egoismus und Nebelschlussleuchte
Es gibt Abende, da geht man mit einer guten Grundstimmung ins Stadion. Eishockey ist für mich normalerweise genau so ein Ort. Ich fühle mich dort wohl, man kennt die Menschen um sich herum, es herrscht meist eine angenehme Mischung aus Emotion, Fairness und Gemeinschaft. Umso irritierender ist es, wenn genau dieser Ort plötzlich kippt.

Schon vor Spielbeginn war die Stimmung gestern ungewohnt. Die Ultras waren nicht da. Komplett. Sie hatten sich bewusst entschieden, das Spiel zu boykottieren, um gegen Partien unter der Woche zu protestieren. Dieses Thema taucht im Eishockey regelmäßig auf und der Kern der Kritik ist bekannt. Viele Fans müssen am nächsten Tag arbeiten oder zur Schule, Anfahrten sind lang und unter der Woche fehlt oft die Flexibilität. Das ist ein legitimer Punkt und darüber kann man diskutieren.
Was gestern allerdings auffiel, war die Art und Weise, wie dieser Protest umgesetzt wurde und welche moralischen Brüche dabei sichtbar wurden. Der Stadionsprecher hielt sich zunächst mit Kommentaren zurück, machte dann aber deutlich, dass die restlichen Fans den Block füllen und für Stimmung sorgen sollen, so wie früher im alten Stadion an der Jahnstraße. Später wurde er noch klarer. Die Mannschaft hatte in dieser Woche enorm viel geleistet. Am Dienstag stand noch ein Champions-Hockey-League-Spiel in Göteborg an, mit Reise, Belastung und kaum Erholungszeit. Und nun standen die Spieler schon wieder auf dem Eis. Wer unter solchen Bedingungen alles gibt, hat es verdient, dass die Fans ebenfalls alles geben.
Damit hatte er recht.

In den ersten Minuten merkte man durchaus, dass etwas fehlte. Die Koordination im Support war ungewohnt, Gesänge setzten nicht ganz gleichzeitig ein und die Abstimmung wirkte holprig. Das war spürbar, aber auch nachvollziehbar. Wenn ein großer, sonst tonangebender Teil der Fans fehlt, muss sich eine neue Dynamik erst finden.
Was dann folgte, war umso bemerkenswerter. Mit fortschreitender Spielzeit wuchs der Zusammenhalt im Block, die Unterstützung wurde lauter, geschlossener und ehrlicher. Bis zum Spielende lief der Support richtig gut und die Stimmung im Stadion war stark. Es war kein organisierter Protest, kein choreografiertes Auftreten, sondern ehrliche Unterstützung für die Mannschaft. Und genau das hat funktioniert.
Und man muss es auch ganz klar sagen: Unsere Jungs vom ERC liefern momentan eine Leistung ab, die schlicht beeindruckend ist. Das ist kein kurzer Höhenflug, kein glücklicher Lauf, sondern konstant starkes Eishockey auf hohem Niveau.

Fast hätte man in der Champions Hockey League sogar Frölunda Göteborg geschlagen. Ein Team, das zu den besten in Europa gehört, wenn nicht aktuell sogar das Maß der Dinge. Allein dieses Spiel hat gezeigt, auf welchem Niveau sich der ERC inzwischen bewegt.
Dazu kommen vierzehn Heimsiege in Folge. Vierzehn. Das ist keine Randnotiz, das ist eine Ansage.
Und dann dieses Spiel gestern. Gegen die Eisbären Berlin. Eines der spannendsten, nervenaufreibendsten Spiele der gesamten Saison. Tempo, Wendungen, Tore am laufenden Band. Am Ende ein 8:5-Sieg, erkämpft, erspielt, verdient. Genau solche Abende sind der Grund, warum man ins Stadion geht. Genau solche Leistungen verdienen volle Ränge, lauten Support und Fans, die hinter der Mannschaft stehen, egal an welchem Wochentag.

Denn genau hier wird der Protest widersprüchlich. Am Dienstag in Göteborg, ebenfalls unter der Woche, waren Ultras durchaus vor Ort. Beim Heimspiel blieb man dann fern. Das gestrige Spiel wurde zudem nicht wegen der DEL, nicht wegen Magenta Sport und auch nicht aus Bequemlichkeit auf einen Donnerstag gelegt, sondern weil in der Saturn Arena eine andere Veranstaltung stattfand. Das wirkt weniger wie konsequenter Protest und mehr wie eine sehr selektive Auslegung von Solidarität.
Was in dieser Debatte ebenfalls oft unter den Tisch fällt, ist ein weiterer Aspekt. Es gibt viele Eishockeyfans, die am Wochenende arbeiten müssen. Pflegekräfte, Menschen in der Gastronomie, im Einzelhandel, im Sicherheitsdienst oder im Schichtbetrieb. Für sie sind Spiele unter der Woche oft die einzige realistische Möglichkeit, überhaupt live im Stadion zu sein. Wenn man das Argument konsequent zu Ende denkt, müsste man eigentlich jeden Spieltermin infrage stellen, der irgendwem nicht passt. Das ist nicht realistisch. Genau deshalb wirkt der Boykott einseitig und wenig durchdacht.

Die ohnehin schon angespannte Grundstimmung bekam in der zweiten Drittelpause dann eine sehr persönliche Wendung. Mir fiel auf, dass der Boden an meinem Platz schmierig war. Beim genaueren Hinsehen zeigte sich, dass unter meinem Sitz ein Getränk verschüttet worden war. Der Bereich war rutschig und meine Jacke ebenfalls nass und klebrig. Ich sprach den Mann an, der rechts neben mir saß und dessen Tochter dort ebenfalls Platz genommen hatte. Sachlich und ruhig, auch weil die Stelle für vorbeigehende Zuschauer gefährlich war.
Seine erste Reaktion war, mir zu unterstellen, ich hätte mein Getränk verschüttet. Das Problem an dieser Aussage war nur, dass ich in diesem Spieldrittel überhaupt kein Getränk hatte. Danach folgte der Hinweis, seine Tochter habe kein Wasser, sondern Limonade getrunken. Ein kurzer Geruchstest an meiner Jacke bestätigte genau das. Es roch eindeutig nach Limonade. Schließlich räumte er ein, dass es dann wohl seine Tochter gewesen sei.
Was folgte, war nichts. Keine Entschuldigung. Keine Bewegung. Kein Versuch, etwas aufzuwischen oder Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen saß er da, unterhielt sich mit jemand anderem und beobachtete die Situation. Am Ende war ich es, die aufstand, etwas zum Aufwischen organisierte und zumindest einen Teil des Bodens reinigte, damit niemand ausrutscht.
Dieses Verhalten war egoistisch und respektlos. Und ganz nebenbei wurde einem Kind vorgelebt, dass man eigene Fehler aussitzen kann, während andere die Konsequenzen tragen. Solche Momente hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack, gerade an einem Ort, der sonst für Gemeinschaft und Fairness steht.

Als wäre das nicht genug gewesen, setzte sich der Abend auf dem Heimweg fort. Vor mir fuhr ein Auto innerorts mit eingeschalteter Nebelschlussleuchte, obwohl die Sicht recht normal war. Ein bisschen nebelig. Die Blendung war deutlich. Ich gab Lichthupe, weil man das nicht einfach hinnehmen muss. Und weil auch hier offenbar Aufklärung nötig ist: Die Nebelschlussleuchte darf in Deutschland nur eingeschaltet werden, wenn die Sichtweite unter 50 Metern liegt, also bei starkem Nebel oder extremen Sichtverhältnissen. Alles andere ist nicht nur unnötig, sondern ein Verkehrsverstoß, weil nachfolgende Fahrer massiv geblendet werden.
Am Ende bleibt das Gefühl, dass sich an diesem Abend viele kleine und große Formen von Rücksichtslosigkeit gesammelt haben. Protest ohne Konsequenz für das eigene Verhalten. Verantwortung, die weitergereicht wird. Regeln, die nur gelten, solange sie nicht unbequem sind. Und genau solche Abende erinnern mich daran, warum ich manchmal sehr bewusst Abstand zu Menschen halte.

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